Schmerzmittel, Bewusstheit und Demokratie
Erst kürzlich las ich über einen erbitterten Streit von Wissenschaftlern über den Zustand der Demokratien dieser Welt und wie sich denn eine Demokratie definiert. Das hat mich doch recht verwundert. Es ist schon klar, dass es oft nicht eindeutig definierbar ist, ob ein Land eine Demokratie darstellt oder nicht und man kann demokratische und diktatorische Züge erkennen. Allein die Tatsache, dass man wählen darf, kann es nicht sein. Da gehört schon mehr dazu, das ist klar: eine unabhängige Presse, eine unabhängige Justiz und eine unabhängige Opposition.
Haben Sie die Krimiserie „Bosch“ auf Prime gesehen? Sie handelt im Wesentlichen von den Fällen des Kriminalbeamten Hieronymus „Harry“ Bosch, der mit seinem extrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn nicht nur den Kriminellen in Hollywood/Los Angeles, sondern auch seinen Vorgesetzten gehörig auf den Nerv geht.
Everybody counts or nobody counts
Als sich ein Polizist abfällig über einen ermordeten Obdachlosen äußert, sagt Bosch: „Everybody counts or nobody counts“ („Entweder es zählen alle oder keiner“). Ein wunderbarer Satz!
Meiner Meinung nach genügt dieser Satz, um Demokratie zu definieren. Wenn jede/r gleich viel zählt, gleich viele Rechte hat, dann würde es keine Politiker geben, die ihr Amt und ihre Macht ausnutzen. Sie sehen, die Definition ist sehr hochgesteckt. Denn selbst in westlichen Demokratien – und vor allem, wenn Populisten an der Macht sind – gilt das oftmals nicht uneingeschränkt.
Schmerzmittel und Geiselnahme
Erinnern Sie sich noch, an die Geiselnahme in einem Moskauer Theater im Jahre 2002? Die Art und Weise, wie Spezialeinheiten diese beendeten, wurde zur Inspiration der Anfangssequenz des Filmes „Tenet“. Man blies über die Lüftungsschächte Gas in das Theater. Geiselnehmer und auch die Geiseln – wurden innerhalb kürzester Zeit bewusstlos. Nach der Befreiung, inklusive sofortiger Erschießung der bewusstlosen Geiselnehmer, wurden die bewusstlosen Geiseln von den Soldaten am vor dem Eingang des Theaters abgelegt und in Bussen in die umliegenden Krankenhäuser gebracht. Nur … die Leitung der Spezialeinheit weigerte sich, den Ärzten mitzuteilen, welches Gas sie verwendet hatten, diese Information wurde erst einige Tage später veröffentlicht. Insgesamt verstarben 130 Geiseln (über die genaue Anzahl gibt es unterschiedliche Angaben), „nur“ 5 davon durch Schussverletzungen.
Weil man sich also nicht in die Karten schauen lassen wollte, mussten fast 130 unschuldige Menschen sterben. So wenig Wert hatten damals schon Menschen in Russland.
Ein kurzer Ausflug in die Anästhesie: Das bei der Befreiung verwendete Gas war eine Mischung aus Abkömmlingen des Schmerzmittels Fentanyl, eine in der Medizin unverzichtbare und bei nahezu jeder Vollnarkose eingesetzte Substanz. Es ist ein großartiges Mittel, vor allem weil es den Körper in keiner Weise schädigt und hat „nur“ eine akute, starke Nebenwirkung: Atemstillstand bzw. Verlegung der Atemwege. Menschen, die zu viel davon abbekommen, erleiden entweder eine Lähmung der Atemmuskulatur oder sie ersticken an der Zunge bzw. an Erbrochenem. Wenn ein Arzt das aber weiß, dann ist die Behandlung völlig unspektakulär und leicht: Kopf überstrecken bzw. stabile Seitenlagerung und bei Bedarf beatmen. Das lernt man teilweise sogar im Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein.
Das ist nur eine von vielen Geschichten, die man beispielsweise aus Russland erzählen könnte. Und diese Geschichten bewirken eines: Menschen, die in so einem Umfeld aufwachsen, lernen, dass ein Individuum nichts zählt. So gewöhnt man Menschen an das Leben in einer Diktatur. Können wir der russischen Bevölkerung wirklich verübeln, dass vielen von ihnen das Leiden der ukrainischen Bevölkerung egal ist?
In einer Diktatur ist es völlig klar, dass der/die Herrscher mehr zählt als andere und dass das Leben der einfachen Menschen kaum einen Wert hat. In Thailand stehen bspw. bis zu 15 Jahre Haft auf Majestätsbeleidigung. Aber nicht auf Beleidigung von „unwichtigen“ Menschen. Um eine funktionierende Diktatur aufzubauen, muss man der Bevölkerung klarmachen, dass das Leben eines „gewöhnlichen Menschen“ nichts oder zumindest nicht allzu viel zählt.
Und in Deutschland?
Als im Jahre 1991 der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl bei einer Veranstaltung mit Eiern beworfen wurde, stürmte dieser zum Entsetzen seiner Personenschützer auf die Menge zu und lieferte sich eine Rangelei mit den Eierwerfern. Diese hatten nur zwei Dinge zu befürchten: eine Anzeige (was nicht passierte) und Helmut Kohl selber („Da ich nicht die Absicht habe, wenn jemand vor mir steht und mich bewirft, davonzulaufen, bin ich eben auf die zu und da stand ein Gitter dazwischen und das war von Nutzen – für wen habe ich nicht gesagt, das überlasse ich ihnen.“). Mehr nicht!
Was hat das Ganze mit Bewusstheit zu tun?
Eine ganze Menge sogar! Ein Mensch mit Bewusstheit ist sich seines eigenen Wertes bewusst. Er/Sie weiß, dass sein/ihr Leben wertvoll ist und weder „nichts“ wert ist noch „weniger wert“ als das anderer ist. Alles anerzogene „sich klein und wertlos fühlen“ ist abgefallen. Bewusstheit habe aber einen anderen großen Vorteil: wenn Sie einmal den wirklichen Wert ihres eigenen Lebens wissen, dann wird Ihnen auch ganz klar, dass das für das Leben anderer ebenso gilt. Sie sind wertvoll, aber nicht wertvoller als andere.
Wie Harry Bosch bereits sagte: „Entweder es zählen alle oder keiner.“ Und in dieser Definition gibt es weder Platz für Nationalismus noch Rassismus.
Bewusstheit bringt aber auch Verantwortung mit sich. Ein verantwortungsvoller Mensch wird keine Populisten oder Politclowns wählen. Wussten Sie, dass nur wenige Monate vor Boris Johnsons unerwartetem und fulminantem Wahlsieg im Jahre 2019 einer Umfrage zufolge gerade einmal 13 % der Briten diesem Mann einen Gebrauchtwagen abgekauft hätten. Und mehr 80 % gaben an, dass während der Brexitkampagne 2016, die maßgeblich von Nigel Farage und Boris Johnson vorangetrieben wurde, erheblich gelogen wurde. Wie bitte? Man weiß, dass dieser Mann ein Lügner ist und vertraut ihm mehrheitlich nicht, aber man wählt ihn zum Bestimmer der Geschicke eines ganzen Landes? Eine eigenartige Einstellung, die die Frage nach dem Verantwortungsbewusstsein der britischen Wähler aufwirft und sicher nicht von bewussten Menschen durchgeführt wurde. (Keinesfalls will ich behaupten, dass es in anderen Ländern besser sei, bei Politclown Boris Johnsons ist das Problem nur besonders gut sichtbar).
Und eines der Resultate dieses verantwortungslosen Wahlverhaltens ist beispielsweise „Partygate“. Kann man noch deutlicher zeigen, dass man glaubt mehr wert zu sein als andere, wenn der Premierminister während des Lockdowns auf alle von ihm selbst erlassenen Regeln pfeift und ungehemmt Partys feiert?
Populisten und Diktatoren sind Gegner demokratischer Spielregeln, weil sie nicht an den Satz von Harry Bosch glauben.
Demokratische Wahlen und Bewusstheit
Einmal ganz unabhängig vom Inhalt der Politik von Angela Merkel, aber die Einstellung mehr wert zu sein als andere, das kann man sich bei ihr wirklich nicht vorstellen, oder?
Menschen mit Bewusstheit wählen in einer Demokratie nur Politiker, die nicht diese Einstellung haben. Natürlich kann das Individuum in einer „stabilen“ Diktator nicht viel ausrichten – und wer ist schon ein Held? Aber in funktionierenden Demokratien muss gelten: „Wehret den Anfängen“. Politiker mit der Einstellung mehr wert zu sein als andere gefährden in erheblichem Maße demokratische Grundregeln. „Wehret den Anfängen“, das müsste in sämtlichen Wahlkabinen aufgestellt werden, die Wähler sind gefragt. Und auch wenn es nur ein Kreuz auf einem Blatt Papier ist, so sollte doch damit verantwortungsvoll umgegangen werden.
Und für diesen verantwortungsvollen Umgang braucht es Bewusstheit. Warum wählen Menschen einen Politiker, nur weil er einen gewissen Unterhaltungswert hat? Warum sehnen sich Menschen nach „dem starken Mann“?
Liebe Wählerschaft, bitte haltet zuerst Innenschau und werdet euch über die eigenen Motive klar, bevor ihr euer Kreuz bei der Wahl macht. Die Welt braucht mehr Bewusstheit.